Brauchen wir eine Verfassung Für Die Erde?

There is a slowly growing public demand for an evolutionary ontological theory, whose philosophical basics could be a starting point for dealing with the current crisis in the fields of science, education, politics and law.

Die neuzeitlichen Verfassungen moderner Staaten wurden als höchste Rechtsakte verabschiedet, die den Volkswillen in allgemeinen philosophischen Formulierungen ausdrückten. Sie deklarierten das Bestreben, das jeweilige Land als Heimat freier und gleicher Bürger aufzubauen, zu schützen und weiterzuentwickeln.

Der Planet Erde musste nicht Teil des menschlichen Strebens nach Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft sein. Er schien die Kultur nicht zu hindern und obwohl er den Eindruck erweckte, als würde er allen gewollten Veränderungen Widerstand leisten, so ermöglichte er doch gleichzeitig durch seine unparteiischen Prozesse und seine Objektivität deren Vollzug. Der heutige Aufschwung der technischen Konsumkultur (Zivilisation) zeigt jedoch in sehr anschaulicher Weise, dass diese Epoche zu Ende ist.

Denn die vom Menschen geformte globale Kultur – die planetare Technosphäre – entzieht sich den menschlichen Intentionen immer mehr und trifft dabei auf die ältere, eigenständigere und komplexere planetare Biosphäre. Obwohl es sich bei ihr um ein vorübergehendes, künstliches System handelt, vernichtet sie in unsinniger Weise ihr dauerhaftes, natürliches Wirtssystem. Dieses ging der Kultur natürlicherweise voraus und schuf alle erforderlichen Voraussetzungen für ihre Evolution. Aus diesem Grund ist die selbstbewusste menschliche Kultur zum ersten Mal in ihrer Geschichte existentiell bedroht. Deshalb muss sie den nie erklärten Krieg mit der Erde beenden, da sie ihn nicht gewinnen kann.

Es ist davon auszugehen, dass sich die Rolle des Menschen, der als biologische Art der Biosphäre unterworfen ist, grundlegend ändern muss. Aus dem ursprünglich unscheinbaren Bewohner und dem heutigen grausamen Eroberer der Erde muss ihr demütiger Bewunderer und Verteidiger werden. Unter Maßgabe einer langfristigen Koexistenz mit der Natur muss er die Kultur biophil rekonstruieren.

Nach der Entstehung der Kultur ist unser Planet nicht mehr ontisch einheitlich, sondern immer stärker in zwei gegensätzliche Systeme geteilt: die Kultur und die Natur.

Obwohl einige moderne Verfassungen bereits Artikel über den Schutz der Umwelt enthalten, erschwert die ungeklärte Beziehung zwischen Kultur und Natur deren Durchsetzung. Zum Beispiel erkennen die Verfassung Equadors und einige Gesetze in Bolivien das Recht von Mutter Erde auf Leben, Vielfalt und Regeneration in eingeschränktem Umfang an. Auch wenn es sich dabei vor allem um Maßnahmen handelt, die gegen eine wachsende kommerzielle Nutzung der natürlichen Reichtümer durch internationale Förderkonzerne gerichtet sind, ist dies ein bemerkenswerter Schritt in der Rechtsprechung–weg von der gesetzlichen Verankerung der Subjektivität natürlicher und juristischer Personen hin zur Anerkennung der Rechte eines Territoriums als solchen. Die Erde ist jedoch weder ein Fluss, noch ein Naturschutzgebiet, sondern ein planetares, innerlich integriertes Ganzes aller lebenden und nichtlebenen Systeme. Das Recht auf Existenz und eigenständige Entwicklung muss daher der ganzen Erde zuerkannt werden.

Dazu bedarf es der Annahme und Verbreitung eines neuen ontologischen Seinsverständnisses. Das, was mehr als zwei Jahrtausende als Sein bezeichnet wurde und was die Philosophen mit Stabilität und Dauerhaftigkeit verbanden, betrachtet die Evolutionsontologie als Aktivität, Prozessualität und Kreativität. Die Erde, die früher als unbewegliches Zentrum des Weltalls gesehen wurde und in der Neuzeit lediglich als einer von vielen Planeten unseres Sonnensystems, muss heute als einmaliger Prozess der natürlichen Evolution, als dem Menschen und der Kultur übergeordnete Subjektivität verstanden werden.

Der Weg zu einer moralischen und rechtlichen Anerkennung der Subjektivität der Erde ist jedoch äußerst steinig. Man muss sich durch das Dickicht neuzeitlicher Vorurteile von einer bloßen Objektivität und Gegenständlichkeit der Natur hindurchschlagen und den menschlichen Anspruch, die Natur zu besitzen, ablegen. Die philosophische Konzeption einer Verfassung für die Erde geht deshalb von dem ontologischen Beweis aus, dass die menschliche Kultur nicht die Fortsetzung der natürlichen Evolution mit anderen Mitteln darstellt. Sie erkennt die Tatsache an, dass Kultur nicht nur eine Gemeinschaft von Menschen ist, nicht nur eine biologisch-soziale Organisation, in welcher z.B. Ameisen leben. Sie ist eine dem Individuum übergeordnete, künstliche Struktur, geformt aus Stoff und Energie, die der natürlich entstandenen Erde entfremdet wurden. Sie ist ein aktives, gegen die Natur gerichtetes System mit eigenen konstitutiven Informationen (Geisteskultur), doch ohne eigene stoffliche und energetische Basis. Ihr konstruologisches Fundament bilden leider die hochgradig geordneten lebenden und nicht lebenden Strukturen der Erde. Kultur ist daher, lapidar ausgedrückt, die gefährliche Rekonstruktion des biophil angelegten und genial geordneten Planeten für die Konsuminteressen unserer biologischen Art.

Obgleich wir Menschen eine angeborene Prädisposition zu einer offensiven Adaptionsstrategie gegenüber der Natur haben, wäre die heutige, gegen die Natur gerichtete Form dieser Strategie nicht ohne ihre weitere Verstärkung durch die Kultur selbst entstanden. Die überlebenden Jäger und Sammler sind der beste Beweis dafür, dass im menschlichen Genom nicht nur das Potential zu einer offensiven Adaptionsstrategie angelegt ist, sondern auch Furcht, Demut und Respekt vor dem, was den Menschen übersteigt. Es scheint, dass es zu einer signifikanten Unterdrückung dieses biophilen Potentials im menschlichen Genom – also zur Durchsetzung des geistigen Raubparadigmas – erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit gekommen ist. Eine eindimensionale Denkweise, die Identität des Denkens mit dem Sein, die unkritische Hypostase allgemeiner Begriffe, das sich über die natürliche Welt erhebende menschliche Denken – all dies erscheint erst in der griechischen Mythologie, Philosophie und Wissenschaft.

Wenn man anerkennt, dass das geistige Raubparadigma seinen Anfang im antiken Griechenland fand und später durch die neuzeitliche Wissenschaft und Philosophie weiterentwickelt worden ist, sollte man auch sehen, dass die euroamerikanische Kultur die Hauptverantwortung für den heutigen existentiellen Konflikt mit der Natur trägt. Die Aufgabe der Philosophie, die einst am Beginn der überheblichen theoretischen Einstellung des Menschen zur Natur stand, besteht daher in eingehender Selbstkritik. Dabei muss das vorherrschende geistige Raubparadigma freigelegt, offenbart und gebrochen werden.

Seit mehr als dreißig Jahren schreibe und lehre ich, dass die stolze Technikkultur durch sich selbst bedroht ist, da sie die nur einmal evolutionär geformten Voraussetzungen ihrer langfristigen Existenz leichtsinnig zerstört. Die Technikkultur sucht nach Wachstum und Expansion zu Lasten der Natur, verachtet die Erde, verweigert ihr das Recht auf natürliche Erneuerung und Evolution.

Die menschliche Art auf der Erde zu erhalten bedeutet, den Planeten so lange wie möglich unversehrt und unverschmutzt zu belassen. Das setzt voraus, dass man die menschliche biologische Bedingtheit durch die natürlichen Strukturen versteht und der Erde die ihr verschwiegenen Eigenschaften und Rechte, ihre Subjektivität zuerkennt. Als Descartes einst die Wirklichkeit begrifflich in Subjekt und Objekt teilte (res cogitans und res extensa), konnte er nicht wissen, dass der Mensch und die Erde Produkte derselben natürlichen Evolution sind und dass sein vermeintliches Objekt nicht nur den bloßen Raum, sondern eine für das Subjekt übergeordnete kreative Aktivität darstellt, die im Einklang mit dem gesamten Kosmos steht. Er konnte nicht wissen, dass die vorübergehende menschliche Subjektivität nur Teil der älteren und umfassenderen Subjektivität der Erde sein kann. Auf der anthropozentrischen Unterscheidung von Subjekt und Objekt nach Descartes zu bestehen, ist daher heute unwissenschaftlich, fehlerhaft und politisch dumm. Darauf zu bestehen, dass der Mensch der Natur übergeordnet ist, die Subjektivität, den Wert und die Rechte der Erde nicht anzuerkennen, bedeutet für die Menschheit, sich das eigene Grab zu schaufeln.

Die Hypertrophie der kalten Rationalität, deren verborgene Grundlage das bis heute vorherrschende geistige Raubtierparadigma darstellt, half ideelle, Sach- und Organisationsformen der globalisierten, gegen die Natur gerichteten Kultur zu schaffen. Die künstliche kulturelle Subjektivität dieser Formen – die unternehmerische, politische, finanzielle und militärische, die ihren rechtlichen Ausdruck in der Subjektivität juristischer Personen und Organisationen fand, steht einem Teil der Gesellschaft immer noch näher als die natürliche Subjektivität der gesamten Erde. Doch endlich erkennen wir, dass künstliche Subjektivitäten, die durch die wichtigsten Medien unterstützt werden, überaus durchdachte Mechanismen erfordern, um ihre partiellen Machtinteressen mit allgemein menschlichen Belangen zu tarnen. Es ist traurig, dass sich auch die Rechtsprechung mit der Macht verbunden hat und an einer solch raffinierten Täuschung der Öffentlichkeit teilnimmt. Wohl auch deshalb mag sie aufgehört haben, das Minimum der allgemeinen menschlichen Moral zu sein.

Doch selbst eine bis aufs Äußerste geschwächte Moral, deren Regeln nach Humes Worten nicht Resultat von Überlegungen unseres Verstands sein können, erhält sich die Fähigkeit, alle menschlichen Aktivitäten kritisch zu beurteilen. Die Zahl der Menschen, die der Neutralität von Wissenschaft und Technik, der Raubtierökonomie sowie der ihr verpflichteten Politik und Rechtsprechung keinen Glauben mehr schenken, nimmt zu. Langsam entsteht eine gesellschaftliche Nachfrage nach einer evolutionär ontologischen Theorie der Wirklichkeit, deren Minimum zum Ausgangspunkt für die Lösung der Krise auf den Gebieten von Wissenschaft und Bildung, Politik und Recht werden kann. Ich würde mir wünschen, dass der Entwurf einer Verfassung für die Erde nicht nur eine biophile Gesetzgebung und die Verbreitung eines wahren ontologischen Minimums über die Natur des irdischen Seins fördert, sondern auch die jetzt dahinwelkende Moral, sowie ein Ethos pro Natura wachrüttelt, ohne das die globale ökologische Krise nicht überwunden werden kann.